Doktorarbeit

von
Wolpertinger Puzzler

Fach:
Zamonistik

Thema:
Philophysikalische Phänomene und ihre Auswirkungen auf den Kontinent Zamonien


Inhalt:

1. Vorwort
1.1 Einleitung
1.2 Warum Zamonistik?
1.3 Warum Philophysikalische Phänomene?
1.4 Abschweifiges
1.5 Mein Arbeitsplatz

2. Der natürliche Photomorphose-Skotomorphose-Kreislauf
2.1 Die Bedeutung von Licht und Dunkelheit
2.2 Funktionieren von Photomorphose und Skotomorphose im alltäglichen Leben
2.3 Die wichtigsten skotmorphiden Daseinsformen Zamoniens
2.4 Die wichtigsten photomorphiden Daseinsformen Zamoniens
2.5 Fazit und Ausblick

3. Eine kleine Mythenmetzsche Abschweifung
3.1 Warum eigentlich...?
3.2 Der kommerzielle Teil
3.3 Das beste Mittel wider den gesunden Menschenverstand

4. Die Soviseausche Zeitungleichheitsverzwirbelung
4.1 Zeitanarchie in Zamonien
4.2 Die Rolle der Dimensionslöcher
4.3 Ungeahnte Möglichkeiten?

5. Phantasmik
5.1 Die Etikette der Ausnahmenaturphänomene und andere Hirngespinste
5.2 Mythenmetz und die Sinnlosigkeit des Empirismus
5.3 Ich werde gedacht, also bin ich!

6. Schlusswort


1. Vorwort

1.1 Einleitung

Die Nachtschulkarriere meiner Wolpertinger-Welpen-Wenigkeit verlangte nach ihrer Krönung, und ich habe mich hingesetzt und meine Doktorarbeit verfasst. Wohl habe ich einige Anläufe gebraucht, um zu dem nun vorliegenden Ergebnis zu kommen, und ich habe an vielen Stellen lange hin und her überlegt. Nur eines war mir dabei in jedem Augenblick klar: Als Fachgebiet für meine Arbeit kam nur Zamonistik in Frage, die schon immer mein absolutes Lieblingsfach gewesen ist.

1.2 Warum Zamonistik?

Die Zamonistik, jene Art der Geografie, die allein aufgrund des Objekts, auf die sie angewandt wird, den Backenzahn des mystischen Urwesens Zamon, diesen Kontinent, dessen Namen keiner ohne ein Gefühl der Ehrfurcht und Sehnsucht in den Mund nimmt, diese irdische Zentrale all dessen, was die menschliche Vorstellungskraft sprengt, gegen die Naturgesetze des Kosmos eine dreiste und ungezügelte Anarchie auffährt und Wundern, Daseinsformen, Phänomenen aller möglichen und unmöglichen Arten friedliche Koexistenz gewährt, schon viel mehr genannt werden muss als die Lehre von Erdtopografie, Gesteinen, Fauna, Flora, sozialen Gegebenheiten und Ökokreisläufen, nein, in die Zamonistik mischt sich vieles andere, angefangen von der Fantasie über Mythologie, Politik, Psychologie, Biologie, Philophysik und Naturgeschichte bis hin zur obligatorischen Magie. Daher hat mich die Zamonistik von Anfang an verzaubert, begeistert und zu intellektuellen Großtaten mehr beflügelt als irgendein anderes Fachgebiet in der Nachtschule.

1.3 Warum Philophysikalische Phänomene?

Durch diese Themenwahl ist meine Arbeit natürlich mindestens genau so eng mit der Eydeetischen Philophysik verknüpft wie mit der Zamonistik - ich musste mich halt für ein Fachgebiet von beiden entscheiden. Zamonistik kapiere ich grundsätzlich. Eydeetische Philophysik kapiere ich nicht, aber das ist auch kein Fach zum Kapieren, sondern eine Waffe oder zumindest eine Art von Gesellschaftsspiel. Sehen wir es doch einmal realistisch: Da gibt es das Volk der Eydeeten, deren Gehirne nachgewiesenermaßen leistungsfähiger, besser verdrahtet, anfälliger für Intelligenzbazillen und überhaupt mehr sind als bei anderen Daseinsformen. Sie nehmen Wissen auf wie ein Schwamm, während andere tagelang über Büchern brüten; sie kapieren schneller und kommen in Sekundenbruchteilen auf Lösungen zu physikalischen und philosophischen Fragestellungen, zu denen andere nach jahrelanger Meditation gelangen. So weit klar: Die Eydeeten sind einfach die besseren Denker. Dieser Ruf reicht ihnen aber noch nicht: Sie kreieren ein neues Fachgebiet, die Eydeetische Philophysik, das sie nicht nur schneller und besser, sondern überhaupt als einzige verstehen können. Man sagte mir, für Eydeetische Philophysik bräuchte es schon mehr als ein Gehirn, und ich solle die Finger davon lassen. Aber ich sage: Wer will jetzt noch kontrollieren, ob dieses Fachgebiet, deren eifrigsten Vorreiter einer ein gewisser Prof. Dr. Abdul Nachtigaller ist, wirklich einen mutigen Schritt in Richtung der fundamentalen Wahrheit und der Entschlüsselung der Rätsel des Kosmos darstellt oder schlicht einen dummen Streich, den die Eydeeten ausgeheckt haben, um mal einfach nur vergeistigt klingenden Schwachsinn zu labern und Außenstehenden das Gefühl zu geben, aufgrund mangelnder Gehirneffizienz den Sinn der Philophysik nicht verstehen zu können, der aber in Wirklichkeit gar nicht vorhanden ist? Schon Hildegunst von Mythenmetz hat eine ähnliche Technik erfolgreich angewandt: Er schrieb ein 400seitiges episches Gedicht, das so in etwa aus wahllos aneinandergereihten Wörtern bestand, und hielt ganze Heerscharen von Kritikern und Literaturexperten ein Jahr lang damit in Atem, an der meisterhaften Lyrik des Dichters herumzuanalysieren, zu deuten und zu deuteln, bis sie zu dem Schluss kamen, es mit einer ganz neuen Dimension der Literatur zu tun zu haben, der kein sterbliches Wesen auf Erden gewachsen sei. Erst als diese Ansicht publik wurde, gestand Mythenmetz der entsetzten Fachwelt, dass sie es mit gebündeltem verkappten Schwachsinn zu tun hatte.

Aber jetzt kommt's: Das ganze funktioniert auch andersherum. Schon seit Anbeginn meiner Nachtschulkarriere ziehe ich in den Federkrieg gegen die Philophysiker und versuche sie eines Tages mit ihren eigenen Waffen zu schlagen. Mein Vorbild ist in dieser Sache der junge findige Psychoanalytiker Waldimir Wasserzahn, der Mythenmetz damals mit einer verbalen Jiu-Jitsu-Attacke auf den Teppich holte. Er focht die Sinngehaltlosigkeit des Gedichtromans an und behauptete, es sei Mytenmetz' Unterbewusstsein, das da spreche. Der Schriftsteller habe Kindheitstraumata, unerfüllte Sehnsüchte und Ansätze von Psychosen in den Text eingewoben, und als Fachmann könne er sie ohne Probleme ersehen. Als er mit der Aufzählung von Beispielen begann, verschwand Mythenmetz von der Bildfläche und blieb für einige Jahre unauffindbar, wie er es nach öffentlichen Blamagen immer zu tun pflegte. Vom Prinzip her ist das genau die Art, in der ich die Philophysiker fertigzumachen gedenke: Ich durchschaue die Philophysik als ein Fachgebiet ohne Sachinhalt, gebe das aber nicht öffentlich zu, sondern fange einfach an, mit meinem einen schäbigen Gehirn mitzudiskutieren und in der Weise herumzuspinnen, die die Philophysik hervorgebracht hat. Die Diskussion wird sich zu einer Mischung aus Lügenduell, Mensch-ärgere-dich-nicht, Schwarzer Peter und Schach entwickeln, und ich werde so gut spielen, dass meine Gegner bald nicht mehr zwischen ihrem eigenen und meinen Unsinn unterscheiden können. Sie müssen sich zwangsläufig fragen, ob das, was sie als Verarschungsfeldzug gegen die Welt der minder intelligenten Lebensformen begonnen haben, sich nicht inzwischen zu viel mehr entwickelt hat, ob nicht ich das durchschaue, was die Eydeetische Philophysik zu sein vorgibt, ob ich ihnen nicht haushoch überlegen bin! Ich will damit erreichen, dass die Philophysiker sich geschlagen geben und Farbe bekennen: Wollen wir doch mal sehen, was dann wird.

Diese meine Doktorarbeit ist ein wichtiger Zug in diesem Spiel. Ich hoffe, er ist klug.

1.4 Abschweifiges

Noch ein Hinweis: Ich sehe Hildegunst von Mythenmetz und sein Werk durchaus nicht verklärt, aber doch mit einer gewissen Begeisterung. Mythenmetz hat nicht nur einen tiefen Eindruck, sondern auch ein großartiges Werk hinterlassen und den zamonischen Dichtern und Denkern damit viele, vor ihm unerhörte Mittel in die Hand gegeben, wie zum Beispiel die Mythenmetzsche Abschweifung. Ich will nicht, dass es mit imitationsneurotischem Personenkult verstanden wird, wenn ich diese Technik auch in dieser Arbeit anwende. Vielmehr dürfen Sie es als einen kongenialen Schritt in die richtige Richtung verstehen, dass ich die bisher zaghaft und nur in episch-prosaischen Texten angewendete schriftstellerische Technik nun auch auf akademische Aufsätze übertrage und damit den Weg ebne für eine freiere und energiereichere Gedankenwelt. Fangen wir gleich an, wie es Mythenmetz einst tat: Mit der Beschreibung meines Arbeitsplatzes.

1.5 Mein Arbeitsplatz

Ich sitze in einem von führenden Orthopäden empfohlenen Drehsessel vor dem kostbarsten Stück meines Besitzes: Dem Selsillenwebstuhl, der es mir ermöglicht, pure Gedankenenergie in Form von Selsillen mit verschiedenen Wollresten zu verweben. So hätten es wohl die Bewohner des Universums mit der Gralsunder Indexnummer #2364 gemacht, landläufig bekannt als 2364. Dimension, und ich finde es die einzig stilvolle Form für ein Werk solcher Bedeutungsschwere wie meiner Doktorarbeit.

Ich befinde mich in einer Blockhütte, die im obersten Ausläufer der Tornadostadt im Ewigen Tornado erbaut ist. Hierher verirrt sich keiner, ich werde in Ruhe gelassen und überdies ist es stockduster. Das fördert die Population und Infektiosität der Intelligenzbazillen, die mir in diesen Stunden sehr nützlich sind und in kleinen Kulturen in Petrischalen überall im Zimmer verteilt sind, vornehmlich auf Heizkörpern, und liegt daran, dass die Wand des Ewigen Tornados nichts anderes ist als eine eifrig rotierende Finsterwolke. Die Finsternis dieser Wolke ist aufgrund der ungewöhnlichen Zentrifugalkräfte, die bei dieser Mischung aus Tornado und Hurrikan wirken, im unteren Bereich der Tornadostadt kaum zu bemerken, hier oben jedoch verdichtet sie sich so ungeheuer, dass man die Hand vor Augen nicht nur nicht sieht, sondern auch kaum noch fühlt: Die Schwärze ist so abgrundtief, dass sie wie ein Narkotikum wirkt, ich fühle mich fremd im eigenen Körper, weiß nicht mehr, wie ich aussehe und wage zu bezweifeln, dass ich jemals eine feste, körperliche Gestalt hatte. In dieser Art der Trance ist der Geist völlig freischwebend, und die Arbeit am Selsillenwebstuhl geht um Längen leichter von der Hand, weil sie ganz automatisch und ohne spürbaren mechanischen Arbeitsaufwand geschieht.

Ansonsten bemerke ich die Dunkelheit überhaupt nicht, weil meine Augen aufgrund der harten Denkarbeit, die das Verfassen einer Doktorarbeit mit sich bringt, schon so stark begonnen haben zu leuchten, dass der Lichtstrahl die Dunkelheit zerschneidet, und es hell genug ist, alles zu sehen, wohin mein Blick fällt, und das lohnt sich schon mal, denn in meinem Arbeitszimmer gibt es über den Selsillenwebstuhl hinaus einiges zu entdecken. Das Zimmer selbst ist dreieckig, und der Webstuhl ist eigentlich Bestandteil einer langen Arbeitsplatte, die ansonsten mit allen möglichen Utensilien übersät ist: Ein Tintenfass mit Federhalter. Eine Lehrer-Lämpel-Pfeife. Mini-Globen von Merkur, Venus, Erde, deren Mond, Mars, Jupiter, dessen vier größten Monden, Saturn, Uranus, Neptun, Pluto und Transpluto. Ein Modell des Sternenhimmels. Ein Mikroskop. Eine altmodische goldene Taschenuhr. Einen altmodischen goldenen Kompass. Ein altmodisches goldenes Metronom. Eine altmodische goldene Lupe. Eine Kristallkugel. Ein Tick-Tock, das sich im Ruhezustand befindet, weil es mich sonst rasend machen würde. Ein Portraitfoto eines grinsenden Fhernhachen. Eine Miniaturkanone. Verschiedene Prismen. Ein Möbiussches Band. Eine Ewige Kerze. Eine klassische Sanduhr. Ein chaotisches Drehmobil. Ein magischer Spiegel. Ein Schneidemesser. Klebeband. Eine Stimmgabel. Ein Totenschädel. Ein Satz Spielkarten. Ein Würfelbecher. Eine Miniaturguillotine. Ein dicker Notizblock. Ein Hufeisenmagnet. Ein Schachbrett. Eine Sammlung wolterkischer Fingerhüte. Niedliche Utensilien noch und nöcher.

Sieht man von der für die eher kleinen Dimensionen meines Studierzimmers schon monströsen Orgel ab, zu deren Manual, überragt von tausenden Pfeifen, die sich in der Größenordnung von haarfein bis mammutbaumstammdick erstrecken, ich den Rücken wende, sind die Wände ganz von Regalen überzogen. Keine Einbauregale vom Möbelhaus, oh nein, schließlich handelt es sich hier um eine umfangreiche Referenzbibliothek aller zamonischen Wissenschaften und der Magie, die hat Erlauchteres verdient. Zerlesene Schinken stehen teils, teils stapeln sie sich einfach in selbstgezimmerten, unregelmäßig, ja geradezu labyrinthartig angeordneten Fächern, daneben nisten bisweilen Eulen oder Flamingos, von deren Echtheit ich nicht restlos überzeugt bin.

Wo zwischen zwei Büchern eine Lücke klafft, kann man oftmals in eine andere Welt blicken - man sieht Wälder, Gärten, Dörfer, Hexenhäuschen, Treppenhäuser, prächtige Säle, Landschaften wie Almen, Vulkankolonien, Korallenriffe, Prärien, Schneelandschaften und auch schon mal das Weltall. Es ist durchaus keine Seltenheit, wenn die Bücher selbst Merkmale wie Reklameschilder, Türen, Fenster, Markisen, Gesimse oder Schornsteine aufweisen. Ein braunes, schäbiges, zerlesenes Buch mit Klebebindung mit seiner Holztür und den gesprungenen Scheiben erinnert an eine Bruchbude, ein prächtiger Wälzer mit Seideneinband, Marmorportal und stuckverziertem Buchrücken an eine Prachtvilla. Nimmt man ein solches Buch aus dem Regal und schlägt es auf, so erwarten einen mitunter keiner bedruckten Seiten, sondern verschiedenst eingerichtete Zimmer - Harmonie in der Familie von Heidi Klumbrück enthält etwa die Wohnung einer fünfköpfigen Familie, Das medizinische Basiswerk von Kaspar Quiegel eine Arztpraxis, Gastronomischer Führer rund um den Globus von Schorsch Dreher ein Fünf-Sterne-Restaurant, und so weiter.

In der Mitte des Raumes schwebt eine seltsame Gestalt, bald ein Würfel, bald ein Kristall, bald ein Zylinder. Mal zeigt er komplexe Schaltkreismuster, mal eine detailierte Übersicht über Brunsbüttelkoog, mal ein Periodensystem der chemischen Elemente. Es ist der Ihnen bekannte Kartenmacher, der seine Karriere im Großen Kopf aufgab und sich von mir domestizieren ließ, auf dass ich ihn als Deckenbeleuchtung, Konversationspartner und Taschenrechner verwende. Eine faszinierende Daseinsform, mit der es mir vergönnt ist mein Studierzimmer zu bereichen.

An den Wänden flackern Kerzen, die zwar gegen die allüberall herrschende Finsternis nichts ausrichten können, aber doch eine gewisse Atmosphäre schaffen. Auf einer griechischen Säule steht die Marmorbüste des Exornatulus Hackebeïl, eines meiner Erzfeinde. Ein Terrarium gibt es, in dem sich Teile der Palette der zamonischen Flora austoben können, ein Aquarium mit entsprechenden Wasserbewohnern, des weiteren ein tätiger Miniaturvulkan. In einer Zimmerecke birgt meine alte, eisenbeschlagene Holztruhe ihr Geheimnis. Etwas ganz besonderes steht auf einer halbkreisförmigen hölzernen Wandkonsole. Eine Art chemische Apparatur, zylinder- und kugelförmige Glasbehälter, verbunden durch gläserne Röhren, ziemlich verworren. An einer Stelle ist eine Röhre verdickt, darin windet sich eine Spirale. Verschiedenfarbige Flüssigkeiten und Gase brodeln durch die Apparatur, blubbern, wechseln Farbe und Aggregatzustand, vermischen sich. An kleinen Schnürchen hängen ein paar suppenwürfelartige Teile in einen Glaszylinder, die sich in den vorbeifließenden Essenzen langsam auflösen. Die ganze Apparatur verfügt über einen Saugstutzen wie bei einer Saxophon-Pfeife, durch den man einige der Gase abschmecken könnte - wenn man wollte - und über einen Trichter, in den das unterschiedlichste hineingegeben werden kann. Da gibt es auch viele Möglichkeiten: Rund um diese Gerätschaft stehen und liegen Flaschen verschiedener Form, Größe, und Inhaltes (darunter auch eine Kleinsche Flasche), kleine Döschen mit Pülverchen, Schachteln mit Teeblättern, ein Kästchen, das viele dieser oben beschriebenen Suppenwürfel enthält, ein Brett mit Messer, das anscheinend zur Zerkleinerung derselben dient, ein Hängegestell mit zehn Reagenzgläsern, Phiolen, Pipetten, Petrischalen - und, unter der größten der Glaskugeln in der Apparatur, ein Bunsenbrenner mit Reglern zur Einstellung der Flammenbreite, -höhe, -temperatur, -farbe (alles drin von schwarz bis blau-gelb kariert) und -geräuschpegel. Dies alles braucht man für die Zubereitung wirklich guter Fingerhut-, Maiglöckchen-, Tollkirschen-, Stechapfel- und Königskerzentees, vorzüglich beispielsweise durch den Zusatz von Quecksilber, Fliegenpilz- oder Seidelbalstextrakt. So kann Tee kochen zum Hobby werden.

Nein, jetzt sollte ich aber wirklich zum Schluss kommen, den Selsillenwebstuhl zum Glühen bringen und endlich anfangen mit der noch nie dagewesenen Abhandlung über philophysikalische Phänomene und ihre Auswirkungen auf den Kontinent Zamonien.


2. Der natürliche Photomorphose-Skotomorphose-Kreislauf in Zamonien

2.1 Die Bedeutung von Licht und Dunkelheit

WISSEN IST NACHT! Dieser Lehrsatz der Eydeetischen Philosophie ist schnell daherdeklamiert, aber zur Erklärung der seltsamen These, auf die er sich stützt, braucht es schon etwas länger. Am besten fängt man an, indem man die Begriffe Licht und Dunkelheit klärt, die beiden gegensätzlichsten Energieformen des Universums. Für die Dichter und Denker Zamoniens ist die Dunkelheit der schlechthinnige Rohstoff, die dunkle, stille, verborgene Energie, die Kraft zur Kreativität gibt, inspiriert und die Population von Intelligenzbazillen ganz ungemein fördert. Licht dagegen tötet die letzteren ab, es ist die laute, bunte, schrille Energie, die zur gedanklichen Passivität verführt.

2.2 Funktionieren von Photomorphose und Skotomorphose im alltäglichen Leben

Wie meine Leser sicher aus Erfahrung zur Genüge wissen, ist für dichterische und denkerische Arbeit ein ausreichendes Maß an Dunkelheit ebenso unabdinglich wie Sauerstoff zu einer chemischen Verbrennung. Sauerstoff hält die biologische Zellatmung in Gang, Kohlendioxyd die Photosynthese. Und genau so ist es mit Licht und Dunkelheit. Der Körper der meisten Daseinsformen ist von Natur aus darauf eingestellt, Lichtenergie in Dunkelheit umzuwandeln, die Photomorphose, ein Vorgang, der sich im Ausführen urzeitlicher, primitiver Verhaltensweisen äußert, wie zum Beispiel Sammeln, Jagen, Essen, Fortpflanzung, das Grölen von Fangesängen auf Fußballtribünen und ähnliches. All diese Verhaltensweisen sind bei besagten meisten Lebensformen ebenso unverzichtbare Lebensbestandteile wie das Dichten und Denken, die geistige Tätigkeit, die mit dem Vorgang des Umwandelns von Dunkelheit in Licht definiert ist, der Skotomorphose. Hier spielt ein weiteres Phänomen mit: Die Dunkelheit ist der natürliche Lebensraum von Intelligenzbazillen. Bei Dunkelheit befallen sie den Organismus sofort und stellen seine Zellen gewaltsam auf Skotomorphose um, die daraufhin Dunkelheit aufsaugen, anspruchsvollste Denkprozesse und Orgien der Kreativität in Gang setzen, bei denen als Abfallprodukt jede Menge Licht frei wird. Das erklärt unter anderem, warum die Augen von Eydeeten stets leuchten. So entsteht ein natürlicher Kreislauf, der sich bisher immer gut im Gleichgewicht gehalten hat: Die meisten Lebensformen halten sich schon auf der Ebene des einzelnen Individuums die Waage und decken ihren Eigenbedarf an Licht und Dunkelheit, dann gibt es einzelne eher skotomorphide und einzelne eher photomorphide Lebensformen, die unterm Strich ebenfalls ein ausgeglichenes Verhältnis schaffen. Extreme hierbei sind die fast ausschließlich photomorphiden Blutschinken auf der einen und die Eydeeten auf der anderen Seite, die sich weitestgehend auf die Skotomorphose beschränken. Und dann gibt es da noch gewisse andere Extrempole, die sich ein gegenseitiges Gleichgewicht schaffen...

2.3 Die wichtigsten skotomorphiden Daseinsformen Zamoniens

Man kennt ihn kaum, und doch ist er eine der faszinierendsten Lebensformen Zamoniens. Er verändert ständig Form und Gestalt, hat ein ungewöhnliches Begrüßungsritual, zählt zu den bioelektrischen Kortikallebensformen und kann an Karten alles anfertigen, was das Herz begehrt: Landkarten, Stadtpläne, Schnittzeichnungen von Eydeetengehirnen, Lösungswege komplizierter kubischer Bruchungleichungen, Sternenkarten, Stammbäume, Hieroglyphenbuchstabiertabellen, das Periodensystem der chemischen Elemente, Anatomie aller Daseinsformen, Molekülmodelle aller Stoffe vom Chlorgas bis zur Desoxyribonukleinsäure, Schaltpläne, topographische und geozentrische Weltbilder, Giftpflanzentabellen, Baupläne frühzeitlicher Rechenmaschinen, YoYo-Kunstfiguren, Farbbestimmungstabellen, Mondphasentafeln, Matrixquellcode, Liniennetzpläne, Orchesteraufstellungspläne, biologische Systematiktabellen und und und... sie werden es sicher schon erraten haben, ich meine den sogenannten Kartenmacher. Er ist ein großer Denker, eine Lebensform, die natürliche Verhaltensweisen wie Essen oder Jagen gar nicht kennt und somit Tag und Nacht damit beschäftigt sein kann, Karten anzufertigen, zu rechnen und zu philosophieren. Er muss in der Spanne seiner Existenz mehr Geheimnisse des Universums im Geiste gewälzt haben als alle großen Philosophen der Erde zusammen. Früher lebte er im Großen Kopf, jetzt habe ich ihn, wie schon erwähnt, domestiziert und verwende ihn als Deckenbeleuchtung, Konversationspartner und Taschenrechner. Er ist ein angenehmer und faszinierender Zeitgenosse.

Dann darf auf keinen Fall das Zamomin unerwähnt werden, jener unglückselige Denkstein, der nach Ansicht mancher besser nie aus der Alchimistenküche Prof. Dr. Abdul Nachtigallers hervorgegangen wäre. Aber immerhin kann das Zamomin gar nichts anderes als Denken und produziert so eine Menge Licht, die Zamonien sonst entgehen würde. Dass es größenwahnsinnig, durchgedreht, übergeschnappt, kriminell und tyrannisch ist, ist eine andere Sache. Wer wäre das nicht an seiner Stelle?

Man mag nicht glauben, dass er skotomorphid ist: Er leuchtet nicht, er liegt ganz ruhig da, aber es ist tatsächlich bewiesen: Er wandelt Dunkelheit in Licht um und denkt ziemlich viel. Im Wesentlichen ist er damit beschäftigt, seine Erinnerungen zu verarbeiten, und davon hat er eine Menge: Immerhin ist er Milliarden von Jahren durchs Weltall gereist, hat Welten gesehen, die so manche Vorstellungskraft sprengen könnten und eine Menge Lebenserfahrung gesammelt. Jetzt liegt er regungslos auf dem Boden des großen Waldes, ärgert sich über die spießigen irdischen Naturgesetze und denkt nach. Einst ein Meteor, nun ein See und eine wichtige Lichtquelle für Zamonien.

2.4 Die wichtigsten photomorphiden Daseinsformen Zamoniens

Ganz in der Nachbarschaft und ansonsten vereinzelt über Zamonien verteilt sind die Sternenstauner, festgewachsene vieläugige Daseinsformen, die zwar auch schon uralt sind, aber noch nicht viel von der Welt gesehen haben. Ihr Schicksal wäre es, da zu bleiben, wo sie sind, und sich bis in den Tod (dessen Kommen nicht einmal sicher ist) in Grauen erregender Langeweile zu suhlen. Ihm sind sie durch die Flucht in die Photomorphose entgangen: Essen, schlafen, dummes Zeug labern, das sich auch noch nach Weisheit anhört. Bemitleidenswert, aber unentbehrlich für das Gleichgewicht des Photomorphose-Skotomorphose-Kreislaufs.

Es fragt sich, ob der Ewige Tornado unter Daseinsformen abgelegt werden darf, aber nichtsdestotrotz muss er an dieser Stelle unbedingt genannt werden: Wie ich schon erwähnte, ist dieses zamonische Wetterphänomen die größte stabile Finsterwolke überhaupt, damit ein idealer Ort zum Schreiben einer Doktorarbeit und einer der wichtigsten Umwandler von Licht in Finsternis. Würde man den Kopf direkt in die Tornadowand halten, müssten sich einem eigentlich schlagartig die zwölf letzten Geheimnisse der Fundamentalen Wahrheit erschließen. Hat aber bisher noch keiner gewagt.

Und schließlich: Die paar Bolloggs, die noch über Zamonien verteilt sind, müssen natürlich allein aufgrund ihrer Größenordnung zu den wichtigsten photomorphiden Lebensformen Zamoniens gerechnet werden. Die unsägliche Dummheit, die das ganze Leben jener riesigen Geschöpfe prägt, reicht allein bei einem Exemplar für 9000 Kilonachtstunden am Tag. Gelänge es, diese Dunkelheit direkt "ab Werk" zu komprimieren und in das Hirn eines Erfinders zu leiten, könnte die Menschheit gewissermaßen über Nacht mindestens ein Jahrhundert in der technischen und kulturellen Entwicklung fortschreiten.

2.5 Fazit und Ausblick

Anzumerken wäre dabei, dass die in Zamoninen dicht gesäten Dimensionslöcher hier eine Sonderrolle einnehmen. Sie fungieren auch als ein Ausgleich von Licht und Finsternis zwischen den verschiedenen Dimensionen, nein, sagen wir besser, verschiedenen Universen: Alles fließt hin und her und bildet ein interuniversales Gleichgewicht, von dem der lokale zamonische Photomorpose-Skotomorphose-Kreislauf nur ein Teil ist. In dieser seiner Allgegenwärtigkeit vergisst man leicht, welche Bedeutung das Gleichgewicht von Licht und Finsternis für uns alle hat. Was, wenn sich jetzt herausstellt, dass die angebliche Unsterblichkeit der Sternenstauner tatsächlich nur ein Märchen ist und die ersten Exemplare beginnen wegzusterben? Was, wenn der Kartenmacher aus irgendeinem Grunde einen Kurzschluss erlitte und nicht mehr zu reparieren wäre? Was, wenn das Zamomin, in dem der Großteil der Bevölkerung und sogar sein Erschaffer, Prof. Dr. Abdul Nachtigaller, der es eigentlich besser wissen müsste, nur Ärgernis und Bedrohung sieht, durch irgendein militärisches Sondereinsatzkommando beseitigt würde? Was, wenn aufgrund der bevorstehenden globalen Klimaveränderungen der Ewige Tornado kollabiert? Was, wenn die letzten paar Bolloggs ausgerottet werden? Was, wenn der denkende Meteoritensee im Großen Walde eines Tages eine Möglichkeit findet, wieder in den Weltraum nach Hause zu kehren? Es ist durchaus anzunehmen, dass Zamonien innerhalb der nächsten Jahrzehnte entweder mit einem drastischen Wegsterben oder mit einer eklatanten Überpopulation von Intelligenzbazillen rechnen muss, eine Situation, die durch die Ungewissheit, in welche Richtung sie sich entwickelt, noch bedrohlicher erscheint. Es fragt sich, ob die zamonische Bevölkerung ihre Lebensverhältnisse schnell genug an die Veränderungen anpassen kann... aber was kümmert's mich! Ich habe bereits meine Verbindungen spielen lassen und jeweils 7 Millionen Tonnen Licht- und Finsterniskonzentrat aufgekauft und eingelagert, womit auch feststeht, wer in Zukunft an das eine oder andere kommt... wer es sich leisten kann, natürlich! Kähähähähähähäääääää!

Moment, wie war das eben? Kähähähähähähäääääää? Lieber Himmel, es muss schlimm um mich bestellt sein. Höchste Zeit für eine kleine Mythenmetzsche Abschweifung!


3. Eine kleine Mythenmetzsche Abschweifung

3.1 Warum eigentlich...?

Ja, warum eigentlich? Warum sitze ich hier im Tornado und verschwende kostbare Stunden meiner Existenz damit, diesen Teppich zu weben? Was bringt mich dazu, mich seit Monaten mit der Beantwortung alberner Fachfragen intellektuell zu verausgaben, die Belange dieses hirngespinstigen Kontinentes Zamonien zu entwirren und meinen Beitrag zum Hausaufgabenarchiv einer von weltfremden Spinnern aus dem Boden gestampften Schule zu leisten, die sich mit all ihrer sinnlosen Phantasterei auch noch eine Eliteakademie schimpft? Wozu tue ich das? Für einen affigen Doktorhut, eine idiotische Urkunde und ein T-Shirt, das aufgrund seiner aufgedruckten Logos, Slogans und Internetadressen noch nicht einmal gesellschaftsfähig ist? Ja, bin ich denn total bescheuert? Was hält mich davon ab, meinen gesunden Menschenverstand zu gebrauchen, den ganzen Krempel hinzuschmeißen, Zamonien auf dem schnellsten Wege zu verlassen und schleunigst nach Eurasien zurückzukehren, wo ich in aller Vernunft beginne, Klavier und Fußball zu spielen, wie es sich gehört? Ja, ich sage Ihnen eins: Genau das mache ich! Aber die spinnerten Mühen wenigstens nicht ganz umsonst waren, vorher noch ein bisschen Werbung aus dem Atlantischen Kultur- und Unterhaltungsbereich. Innerhalb einer Mythenmetzschen Abschweifung durchaus legitim.

3.2 Der kommerzielle Teil

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3.3 Das beste Mittel wider den gesunden Menschenverstand

Soll ich Ihnen erzählen, was ich während der Werbung gemacht habe? Ich habe das Fenster aufgerissen und meinen Kopf in die Tornadowand gesteckt, in eine der größten Finsterenergiequellen Zamoniens und gleichzeitig das beste Mittel gegen aufkeimenden gesunden Menschenverstand. Ich habe solche kreativen Depressionen mit vernunftbetonten Anwandlungen öfter, dann hilft eine ordentliche Portion rotierender Schwärze immer, mich wieder komplett durchdrehen zu lassen. Ich laufe danach ein paar Runden unter manischem Gelächter im Zimmer umher, setze mich anschließend an den Schreibtisch und fülle ein Stück Pergament mit dreizehneinhalb sinnlosen Geboten. Hier, diese habe ich zum Beispiel gerade niedergeschrieben:

1. Ehre den Kaviar!

2. Du sollst nicht an Pinguine denken!

3. Du sollst deinen Namen nicht schreiben, schreibst du ihn doch, so musst du ihn zum Ausgleich fünfmal rückwärts schreiben!

4. Legst du dich in deinem Bette zur Ruhe, so sollst du mit dem Kopf gen Nord-Nordwest liegen.

5. Ferner sollst du im Schlafe nicht Kanu fahren!

6. Du sollst nicht die Wurzel aus 972 ziehen!

7. Du sollst nicht auf Nebel hoffen!

8. Du sollst finkeln!

9. Du sollst täglich deine Augen zählen, denn im Haus ist es wärmer als mit Briefkopf!

10. Du sollst deinen Nächsten nicht auf sein Geonym ansprechen!

11. Du sollst niemals unreine Früchte essen, sei auf der Hut vor Ameisen und bewahre die Phagocytose!

12. Du sollst insbesondere die zwölfte Regel befolgen!

13. Du sollst mindestens einmal im Leben die Pilgerfahrt nach Valentinsbourgh unternehmen und dort mit einem örtlichen Nahverkehrsmittel sechs Haltestellen weit fahren, auf dass deine Seele gereinigt und bestärkt werde vor dem Antlitz der Welt!

13 ½. Du sollst nach der Stadt mit dem Namen (unleserlich) gehen, und wenn du sie gefunden hast, sollst du sie (unleserlich) und (unleserlich) machen für immerdar!

Anschließend wird das Pergament zusammengerollt und in eine der zahllosen leeren Multivitaminsaftflaschen gesteckt, die bei mir herumstehen. Sodann tritt die Flasche die Reise durch die Tornadowand an, und mein geistiges Ungleichgewicht ist wiederhergestellt. Dann kann ich mit Feuereifer zurück an die Arbeit.


4. Die Soviseausche Zeitungleichheitsverzwirbelung

4.1 Zeitanarchie in Zamonien

Lange Zeit galt es als eine feste Regel, dass das zamonische Jahr einen Tag weniger hat als anderswo - eine Messung, die sich inzwischen als Irrtum herausgestellt hat. Tatsächlich ist es in Zamonien ziemlich sinnlos, irgendwelche Zeitverhältnisse messen zu wollen, denn dieselben sind total verzwirbelt und verworren. Es gibt in Zamonien ca. 4700 verschiedene Arten der Zeitrechnung (die Verehrung diverser Zeitgottheiten nicht eingerechnet), 25 davon amtsgültig, aber keine davon bietet wirklich Anhaltspunkte zur Orientierung, keine bringt Ordnung in das Chaos, das in den zamonischen Zeitverläufen herrscht. Man könnte es so ausdrücken: Das Leben in Zamonien ist eine einzige Zeitreise, mal läuft sie hier rückwärts, dort mit vierfacher und hier mit halber Geschwindigkeit, und es ist ständig im Wechsel begriffen. Es ist keine Seltenheit, dass man von der Süßen Wüste der Renaissance ins Atlantis der Postmoderne kommt, vom Großen Wald der Antike in die Finsterberge des Mittealters. Meistens vollzieht man die Zeitsprünge seiner Umgebung einfach mit, man grüßt seiner Zeitgenossen aus dem Mittelalter auf deren altertümliche Art und Weise, tauscht sich ein bisschen aus und geht weiter. Es scheint eine Art ungeschriebenes Gesetz zu geben, die Zeitstufen in ihrer Linie zu belassen, also beispielsweise nicht umbedingt Mikrochips in die Barockzeit zu exportieren, das wäre einfach ein Stilbruch und nicht gern gesehen. Selbst skrupelloseste Geschäftsleute nehmen weitestgehend davon Abstand.

Viele unbedarfte Zeitenwanderer hat das Phänomen der Zeitanarchie bereits veranlasst, sich als Historiker verdient zu machen - die Recherchemöglichkeiten sind natürlich enorm und die entstehenden historischen Aufsätze sehr dicht am Geschehen. Die meisten sind mit dieser blauäugigen Hoffnung - verzeihen Sie die deutliche Wortwahl - auf die Fresse geflogen. Realistische Berichte aus der Geschichte sind kaum gefragt; man kommt ja im Alltagsleben genug in der Zeitlinie herum und kennt den Ablauf der Schlacht von Midgard so auswendig wie die Preise beim Stammbäcker um die Ecke. Gute und berühmte Historiker zeichnen sich in Zamonien in erster Linie durch Fantastie aus, sie müssen von den Ereignissen berichten, die man beim unkontrollierten Springen durch die Zeit seltsamerweise nicht mitbekommt. Antworten auf Fragen an die Geschichte wie: "Was sind die Grundsätze der Buchtinger Unabhängigkeitserklärung?", "Wie liefen die Atlantischen Erbfolgerempeleien ab?", "Wie lautet der gesamte Text der ursprünglichen zamonischen Nationalhymne?" oder "Wie entstand die fhernhachische Wotanskerbe?" müssen von findigen Geistern erfunden werden, um in die Annalen der Geschichte einzugehen. Dementsprechend viele Versionen gibt es zu so manchen "historischen" Ereignissen, was aber keinen kümmert.

4.2 Die Rolle der Dimensionslöcher

Kommen wir nun von den Folgen der Soviseauschen Zeitungleichheitsverzwirbelung zu deren Ursachen. Ein Wort: Dimensionslöcher. Durch sie fließt nicht nur Licht und Finsternis, sondern in erster Linie auch Zeit zwischen den verschiedenen Universen hin und her. Schwer zu sagen, wieso sich nicht auch das zu einem ruhigen Gleichgewicht stabilisiert hat wie es alle anständigen physikalischen Größen tun, die gegeneinander aufgefahren werden. Man könnte das ganze mit einem Wasserbecken vergleichen, das durch Absperrungen in mehrere Einzelbecken unterteilt ist. In den Absperrungen sind einige Löcher vorhanden, das sind die Dimensionslöcher. Die einzelnen Bereiche stellen die verschiedenen Universen dar, das Wasser ist der Zeitfluss. Lässt man das ganze einfach so stehen, wird der Wasserspiegel vollkommen glatt, und der Zeitfluss ist gleichmäßig. Plantscht man aber im Becken herum, und dazu wäre wohl nur ein göttliches Wesen oder so etwas fähig, schlägt die Zeit Wellen und beginnt konfus herumzuschwappen, vorwärts und rückwärts, schneller und langsamer zu laufen ganz nach Belieben. In Kontinenten wie Eurasien, Amerika oder Australien macht sich das kaum bemerkbar, in Zamonien aber, wo die Dimensionslochdichte so außerordentlich hoch ist, ist der Einfluss sehr deutlich zu spüren. Die zamonische Bevölkerung hat sich daran gewöhnt, wie an so vieles. Man denke nur an die ständige Gefahr, Haus und Hof an die Zerstörungskraft eines Bolloggfußes zu verlieren, das Zusammenleben mit Dämonen oder die Schikanen des nattifftoffischen Gewerbeaufsichtsamtes. Da kann man die eine oder andere unverhoffte Zeitreise auch locker wegstecken.

4.3 Ungeahnte Möglichkeiten?

Wie ich schon andeutete, schwappen die Wellen der Zeit üblicherweise in die Zeit von Rokoko und Romantik, auch schon mal ins Mittelalter und nur an Glückstagen vielleicht in die Antike. Man wird sich also nicht unbedingt gleich nach der Einreise in Zamonien im Kambrium wiederfinden, so heftig ist die Bewegung des Wasserspiegels dann auch wieder nicht - es gleicht sich dann doch so in etwa alles aus, allzu weit weg von der Heimatzeit - wenn man sich denn überhaupt auf eine festgelegt hat, das ist aber unter den meisten Daseinsformen üblich - kommt man also nie, und man findet auch immer irgendwie zurück.

Wirklich aufregend würde es, wenn es gelänge, mit den Wellen in prähistorische Zeiten vorzudringen und vielleicht sogar noch gezielt zu lenken. Das wäre Anlass für historische Berichte, die nah am Geschehen und spannend sind! Es sind Gerüchte an meine Ohren gedrungen, der Zamonische Geheimdienst experimentiere bereits mit Maschinen, mit deren Hilfe man im Dimensionlochraum, in dem sich schließlich das ganze Phänomen abspielt, navigieren kann und das Ziel eines Dimensionslochsturzes in jeder Hinsicht selbst bestimmen kann. Worüber ich allerdings nicht weiter spekulieren möchte - wer weiß, ob dieses Gerücht nicht seinen Weg aus ferner Zukunft hierhergenommen hat. Denkbar wäre das allemal, Sie können sich denken, warum.


5. Phantasmik

5.1 Die Etikette der Ausnahmenaturphänomene und andere Hirngespinste

Zamonien ist vielerorts als das Land der unerklärlichen Zufälle und geheimnisvollen Zusammenhänge bekannt. Da gibt es zum Beispiel die sogenannte Etikette der Ausnahmenaturphänomene. Ausnahmenaturphänomene gibt es in Zamonien wohl mehr als nur zur Genüge, aber eigentlich niemals im Doppelpack - ja, sie scheinen sich regelrecht aus dem Wege zu gehen: Lieber ändert ein Meteoritenschauer seinen berechneten Kurs als zeitgleich mit einem Nordlichtspiel für Aufsehen zu sorgen, lieber lässt Mutter Erde eine kleine Insel untergehen als ihre tektonischen Verspannungen durch einen Vulkanausbruch an dem Ort zu besänftigen, wo gerade eine Springflut Aufsehen erregt, lieber riskiert ein gnadenloser Wirbelsturm wie der Scharach-il-Allah eine Vollbremsung als den Auftritt einer halbstabilen Fata Morgana zu vermasseln, lieber hält ein Finsterberggewitter an sich als sich mit dem berühmten Sankt-Elms-Gekräusel in die Quere zu kommen. Solch eine Regelmäßigkeit sorgt natürlich für eine Menge haarsträubender wissenschaftlicher und pseudowissenschaftlicher Erklärungsversuche: Es wird von denkenden, beseelten, atmenden, fühlenden Phänomenen geredet, ja, sogar in neuerer Zeit ist ein Glaube an Naturereignisse als die Personifikation von Gottheiten wieder erwacht, und das nicht nur bei den Blutschinken. Gralsunder Dämonologisten glauben an eine gut organisierte Gesellschaft von Teufelselfen, die nicht nur überall herumsitzen, sondern auch alles steuern und das Aufeinandertreffen von Naturphänomenen von extraordinärer Größenordnung aus irgendeinem Grunde verhindern. Die exzentrischen Philophysiker hinwiederum halten mit einer These über den allgegenwärtigen, unbegreiflichen Dimensionslochraum dagegen, die besagt, dass derselbe sich bei Näherung zweier Phänomene derart komprimiert, dass es zu einem Zeitstau kommt und infolgedessen zu einer unsichtbaren Reaktion von Gennf mit dem elementaren Perpemm in der Umgebung, durch die die Phänomene auseinandergedrückt werden. All diese jämmerlichen Erklärungsversuche ziemlich haarsträubend, sind sie nicht?

Dann gibt es da die Nachtigallersche Septantentheorie, die sich auf dem unsicheren Gebiet der Kosmos- und Seinsforschung bewegt: Man könne das Universum nur durch die Zahl sieben begreifen. Liest man sich die von Prof. Dr. Abdul Nachtigaller angeführten Begründungen auf, stehen einem jedoch die Haare zu Berge: Was, bitte, haben alchimistischer Aberglaube, Nachtigallers kartographische Schwächen und eydeetische Empfindungen (auf diese drei Dinge stützt sich die ganze Theorie) für ein Relevanz für das Wesen des Kosmos? Wenn man das Universum in fetischistischer Weise durch an den Haaren herbeigezogene kleinste Nenner begreifen will, wieso nimmt man dann nicht Spielkarten, Dodekader oder Joghurtbecher? Kurz: Auch mit der Septantentheorie ist ein eindeutig falscher Weg zum Verstehen des Seins eingeschlagen worden.

5.2 Mythenmetz und die Sinnlosigkeit des Empirismus

Schon Hildegunst von Mythenmetz hat sich gegen eine empirische, positivistische Weltsicht gewandt: Das Universum und insbesondere Zamonien sei viel zu sehr der Willkür unterworfen, als dass es sich durch empirische Forschung, immer neue Rückschlüsse und Regelkreisläufe definieren und verstehen ließe. Schon die Etikette der Ausnahmenaturphänomene ist nachgewiesenermaßen viel zu oft durchbrochen worden, als dass es sich mit einem hilflosen "Die Ausnahme bestätigt die Regel" abtun ließe, ein idiotischer Spruch, den ich ohnehin verachte. Wie sonst lässt sich sonst die Existenz des Ewigen Tornados erklären, wie sonst zum Beispiel die berühmte Verschmelzung von Finsterwolkenblizzards und Moorlichtphänomenen, die zusammen jenes substantielle Morgengrauen ergeben, das nur in Zamonien vorkommt? Woher kommt überhaupt dieser Drang, mess- und erklärbare Naturgesetze zu schaffen, Dinge empiristisch zu erklären, die sich ganz offensichtlich nur nach dem Einfach-so-Prinzip erklären lassen?

5.3 Ich werde gedacht, also bin ich!

Aber was heißt hier einfach so: Gebürtigen Zamoniern fällt es natürlich nicht auf, aber mir als Immigrant hat es sich nach einiger Zeit der Beobachtung ganz klar erschlossen: Was immer in Zamonien geschieht, was vom Himmel fällt, gesagt, gedacht, getan wird, was sich erklären lässt oder auch nicht: Alles läuft darauf hinaus, dass sich ein halbwegs anständiger Handlungsverlauf ergibt: Rettungssaurier oder besagte Etikette der Ausnahmenaturphänomene greifen mal zu, mal nicht, je nach Situation und Lage eines Helden, auf dass er nicht zu früh und nicht zu spät aus der Geschichte verschwinde. Laubwölfe können plötzlich und ohne ersichtlichen Grund mit ihren Opfern sprechen. Spannende Abenteuer, faszinierende Handlungsstränge, unterhaltsame Dialoge, gekonnte Naturbeschreibungen und ungezügelte Fantasie machen das Wesen Zamoniens aus. Entsprechend besagt das poetische Weltbild, das Mythenmetz einst in seiner Lehre von der Phantasmik aufstellte, dass Zamonien, seine Bestandteile, Bewohner und Begebenheiten Ergebnis und Objekt schriftstellerischer Willkür eines übergeordneten Wesens sind, aus Vorstellungskraft und Gedankenwelt eines gottartigen Schriftstellers bestehen, der jenen sagenhaften Kontinent in seinem Geiste erschaffen hat.

Abgesehen davon: Was läge näher für einen Schriftsteller, der alles mögliche schreiben können will, als so ein Phänomen wie die oben behandelte Soviseausche Zeitungleichheitsverzwirbelung zu kreieren, das ihn von den Stricken der physikalischen Gesetze entfesselt und ihm die Freiheit gibt, verschiedene Tage, Zeitalter, Ären und sogar erdgeschichtliche Stadien zu einer gigantisch glamourösen und vielfältigen Bühne für die Auslebung seiner Fantasie zu verknüpfen? Ich frage: Was läge näher? Noch eine Frage: Wer sorgt wohl dafür, dass keine Mikrochips ins Barockzeitalter gelangen? Und wer hat wohl den erwähnten Wasserspiegel des interuniversalen Zeitgleichgewichtes in Aufruhr versetzt und hält wohl noch immer den sprichwörtlichen philophysikalischen Rührfix hinein, damit sich die Wellen nicht zu glätten beginnen? Wer wohl, wenn nicht ein höher stehendes Wesen, für das das Drehbuch der zamonischen Geschichte nur ein Roman, ein Fantasieprodukt ist! Überzeugend, gell?

Aber nicht einmal das erklärt alles zur Zufriedenheit: Angesichts der vielen Handlungssprünge, Ungereimtheiten und parallel laufender, widersprüchlicher Handlungsstränge, die Zamonien ebenso ausfüllen wie kunstvoll und fehlerfrei geflochtene Handlungsgeflechte (vom Großen Wald etwa heißt es auch, er bestehe ganz aus Rauchglas oder vom atlantischen Gebba-Spiel, es sei eine moderne Version des Voodoo, die ausschließlich im Erdmittelpunkt praktiziert werden könne) muss man annehmen, das mehr als ein höheres Bewusstsein Zamonien als schriftstellerische Spielwiese nutzt: Meinen Schätzungen zufolge sind es bereits an die 1500 unterschiedlichen Willen, die Zamonien, seine Kultur, seine Geschichte und seine Wissenschaften, lenken, leiten, bestimmen, schreiben. Tendenz steigend.

Mythenmetz ist damals mit seiner Lehre an Hürden gescheitert, die nicht hätten sein müssen. Sein poetisches Weltbild passte nicht zur eigenverantwortlichen Ideologie der Zamonier, und auch er selbst weigerte sich schließlich, es konsequent zu Ende zu führen, als es an seine eigenen schriftstellerischen Arbeiten ging. Natürlich, auch Werke wie Ensel und Krete oder die Finsterbergmade fallen somit in das Opus des höhergeordneten Künstlers.

Jeder Bewohner Zamoniens muss damit fertig werden, dass er/sie/es nur mehr oder minder sorgfältig und liebevoll ausgedachter Charakter ist in einer Handlung, die von höherer Hand zu Papier gebracht wird, Agonist in einem Roman, dessen Verlauf wir nur von innen erahnen können. Aber wer sagt, dass nicht auch Marionetten Puppenspieler sein können? Wer Romane und Geschichten verfasst, wer Fantasiewelten erschafft, wer sich selbst zum Gott über ein eigenes Universum mit unendlichem Handlungspotential erhebt, wer dabei gar autobiografisch oder abschweifig wird, kann sich meiner Meinung nach aus dem Marionettendasein befreien und sein Schicksal und das der Welt ohne die Beschränkung durch Naturgesetze selbst in die Hand nehmen! Mythenmetz hat es geschafft, auch er hat in seiner "Reise nach Yhôll" einen ganzen Kontinent zu erschaffen, ohne irgendeiner durch höhere Instanzen vorausgesetzten Wahrheit verpflichtet zu sein. Oder hat es ihn etwa interessiert, was ein höheres Wesen, das das Geschick des Weltalls in Händen hält, über Yhôll denkt?

Bewohner Zamoniens, hier meine Botschaft: Ihr seid nur, wenn ihr gedacht werdet, aber denken könnt ihr euch und alles andere auch selbst!


6. Schlusswort

Angesichts der Tatsache, dass Zamonien und alles was dort geschieht nur Ergebnis schriftstellerischer Willkür ist, fragt sich, ob es überhaupt sinnvoll war, philophysikalisch-zamonistische Zusammenhänge aufzudröseln und ungeklärte Fragen mit neuen Trugschlüssen zu beantworten. Aber letztlich geht es mir ja auch nicht um die Klärung wissenschaftlicher Zusammenhänge und das Gefügigmachen naturwissenschaftlicher Gedankengänge, sondern um einen affigen Doktorhut, eine idiotische Urkunde und ein T-Shirt, das aufgrund seiner aufgedruckten Logos, Slogans und Internetadressen noch nicht einmal gesellschaftsfähig ist. In diesem Sinne:

NICHTS WISSEN NACHT AUCH NICHTS!